No more Girlbossing – Faulsein im Patriarchat
Am 24. Oktober 1975 legten in Island 90 Prozent der Frauen in der Stadt und auf dem Land die Arbeit nieder, blieben an dem Tag zuhause oder versammelten sich mit anderen Frauen, um einen höheren Frauenanteil in den Parlamenten und eine gerechte Verteilung der Care-Arbeit zu fordern. Dieser Frauenruhetag geht als langer Freitag (lang war er vor allem aus Männersicht) in die Geschichte ein. Laut Autorin Nadia Shehadeh hört sich Ruhe netter an als Kampf, aber eigentlich war es ein Tag, der zum Symbol eines langewährenden Kampfes geworden ist. Ein Kampf, der sich gelohnt hat: Ein Jahr später verabschiedete das Parlament ein Gleichstellungsgesetz und Island gilt seitdem als Musterland der Gleichstellung. „Als einziges Land hat Island die Lücke zwischen den Geschlechtern zu mehr als 90 Prozent geschlossen.“, schreibt Sara Weber in ihrem Buch mit dem provokanten Titel Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten? Der Kvennafrídagurinn ist ein Beispiel dafür, wie wir Frauen dem patriarchalen System, in dem wir leben, etwas entgegensetzen können. Und zwar, indem wir einfach mal nichts machen. Zumindest nichts, was man von uns erwartet. Lasst uns dem isländischen Beispiel folgen und fast 50 Jahre später – wenn auch nur für einen Tag – die Care- und sonstige (unbezahlte) Arbeit niederlegen und kollektiv kontemplieren. Lasst uns faul sein!
Das unterhaltsamste Plädoyer fürs Faulsein findet man momentan in Nadia Shehadehs Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen, das ich L.I.E.B.E.! Ihr Werk kommt mit dem Untertitel Antigirlboss einher, denn die Girlboss-Bewegung verstand sie nie: „[…] Es ist vielmehr ein Durchbruch, dass Menschen, vor allem Frauen, seit einiger Zeit tatsächlich laut sagen dürfen: ,Ich habe keinen Bock mehr.‘“ Denn wir müssen durch eine Welt navigieren, die von morgens bis abends Anforderungen vor allem an uns Mädchen und Frauen stellt. Eine weiblich gelesene Person, die einfach mal gar nichts macht, wird so zur Ikone. Shehadeh skandiert daher: „No more girlbossing. Just girlresting, girlsleeping, girllayingdown etc.”
Glücklicherweise entdecken laut Shehadeh gerade jüngere Frauen „das Narrativ der Faulheit und die geradezu politischen Ausmaße des Nichtstuns mit Begeisterung für sich.“ Auch Sara Weber stellt dies fest. Sie schreibt, dass sie auf TikTok immer mehr Memes und Kommentare findet wie das folgende: „I don’t want to be a girlboss. I don’t want to hustle. I simply want to live my life slowly and lay down in a bed of moss with my lover and enjoy the rest of my existence reading books, creating art, and loving myself and the people in my life.”
Für mich klingt das sehr schön. Zumindest kann ich mich gut mit dieser Vorstellung vom Nichstun anfreunden. Wie ist es mit dir? Wie sähe dein perfekter fauler Tag aus?
Rest-Revolution – Faulsein als Rebellion
Aber auch völlig unabhängig vom Geschlecht kann Chillen ein Akt des Widerstands sein. Denn in einer Kultur, in der wir anhand unserer Produktionsfähigkeit (bei Frauen kommt auch gerne noch die Reproduktionsfähigkeit hinzu) gemessen werden, kommt Ausruhen einer Revolution gleich. Für jede Art von Revolte braucht es natürlich ein bisschen Mut. Denn oft genug ist es so, als dürfe man sich keinerlei Schwäche zugestehen. Der Sozialpsychologe Devon Price hat eine schöne Alliteration geprägt und spricht in dem Zusammenhang von der Laziness Lie (Faulheitslüge). Sie besagt im Grunde, dass wir uns direkt faul fühlen, wenn wir nicht 120 Prozent geben. 24/7. 365 Tage im Jahr. Du bist heute Morgen um sieben aufgestanden, hast Frühstück für deine Familie zubereitet, drei Stunden an deinem Buch geschrieben, warst danach einkaufen, standest eine halbe Stunde bei der Post an, um ein Paket für deine*n Partner*in abzuholen, hast gesaugt, gekocht und Wäsche zusammengelegt und fühlst dich trotzdem so, als hättest du keinen richtigen Job? Laziness Lie! Du fühlst dich schlecht, weil du vorhin eine Stunde gelesen hast – und zwar privat, nur für dich? Laziness Lie! „Wir haben Schuldgefühle, wenn wir ,nicht genug‘ tun – und arbeiten uns krank. Wir lügen uns in die Tasche, indem wir behaupten, dass wir faul sind, wenn wir nicht jede Sekunde des Tages produktiv verbringen.“, beobachtet auch Sara Weber. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich das bestätigen. Ich treibe mich selbst gerne mal zu Höchstleistungen an und versage mir dabei gleichzeitig jegliche Form von Entspannung. Ein Satz meiner Mutter hat sich dermaßen fest bei mir eingebrannt, dass es mir schwerfällt, ihn nicht zu befolgen: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“. Sicher kennen in Deutschland viele Menschen diesen Ausspruch, denn manchmal scheinen die Deutschen geradezu besessen von Arbeit zu sein. Aber wer sagt eigentlich, dass wir immer schneller, höher, weiter, besser werden müssen? Dass wir erst etwas leisten müssen, bevor wir uns Entspannung und ein gutes Leben verdient haben? Genau, der Kapitalismus! Und genau den wollen wir nun mit Nadia Shehadeh bekämpfen. Und zwar vom Sofa aus. Wir steigen aus bei der Selbstoptimierung (s. nächster Punkt), machen nicht mehr mit beim Größerwahn und stellen auch einfach mal Vergnügen über Arbeit. Denn wer hätte es gedacht: Slackertum (slacker ist das englische Wort für jemanden, der „herumhängt“) ist eine äußerst heilende und regenerative Praktik! Nichts spricht dagegen, den (eigenen) Ehrgeiz etwas herunterzuschrauben und stattdessen mehr Komfort anzustreben. Das Rad dreht sich vor allem immer schneller, weil wir es antreiben. Schluss mit Aufopferung für ein System, das nicht für, sondern gegen uns ist. Das System sollte uns dienen, nicht umgekehrt. Verinnerlichen wir es ein für alle Mal: Wir sind genug, wenn wir nicht permanent super motiviert, ehrgeizig oder fleißig sind.
Hat nichts mit Nachlässigkeit zu tun: Faulsein bei der Selbstoptimierung
„Sich selbst nicht lieben zu müssen, kann erleichternd sein.“ Das sind weise Worte von Jean-Philippe Kindler, dessen Buch Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf mich richtig geflasht hat. Endlich erklärt mir mal jemand politische Themen auf verständliche und nahbare Art. Dank Kindler kann ich jetzt sagen, dass mich Politik interessiert. Tatsächlich hatte ich vorher nicht viel dafür übrig, obwohl ich mich schon als politische Person bezeichnen würde. Jetzt verstehe ich, dass so gut wie alles politisch ist. Auch oder gerade, wenn gewisse Politiker*innen versuchen, Themen aus der Politik ins – eh schon Überladene – Private zu verfrachten. Jean-Philippe Kindler ruft dazu auf, verschiedene Bereiche des Lebens zu repolitisieren, das heißt, sie wieder zum Inhalt politischer Debatten zu machen anstatt zur Privatangelegenheit. Momentan passiere nämlich genau das Gegenteil: Die Politik versucht uns (erfolgreich) davon zu überzeugen, dass wir selbst für unser Glück verantwortlich sind. So kann sich die Politik schön aus der Verantwortung ziehen. Der Versuch, das eigene Glück zu entpolitisieren, nach dem Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“, verschleiert allerdings die Auswirkungen sozioökonomischer Faktoren auf das psychologische Wohlbefinden. Kindler schlägt daher eine Repolitisierung des Glücks vor. Dazu gehört zum Beispiel auch, die „Privatisierung von Stress“ nicht zu akzeptieren. Die von der Politik angestrebte Verlagerung gewisser Verantwortlichkeiten ins Häusliche führt dazu, dass wir denken, die Ursache für unsere persönliche Misere wären wir allein. Du hast zu viel Stress? Das kann nicht am System (zu viel Bullshit-Arbeit für zu wenig Geld) liegen. Probier’s doch mal mit einem Achtsamkeitsseminar! In der Folge beschäftigen wir uns mit Selbstliebe, meditieren oder besuchen Wochenend-Retreats, um Missstände, die eigentlich strukturell veranlagt sind, individuell zu lösen. Doch erwiesenermaßen „…führt die obsessive Introspektion, die stetige Untersuchung des eigenen Selbst, durchaus auch zu negativen psychologischen Effekten.“, schreibt Kindler. Zum Beispiel zu dem Gefühl, nie gut genug zu sein. Doch vor allem verhindert sie die Entstehung eines Zugehörigkeitsgefühls oder eines wie auch immer gearteten Willens, sich an Politik zu beteiligen. Denn wir sehen gar nicht mehr, dass wir nicht die Einzigen sind, denen es so geht. Wir sehen nicht mehr das System dahinter.
Wer hingegen versteht, dass gegen Ausbeutung und Kapitalismus Selfcare oder Me-Time wenig nützen, sondern der Staat, die Gesellschaft als Ganzes, etwas unternehmen muss, begreift auch die Worte von Slavoj Žižek, einem slowenischen Philosophen: „Sometimes doing nothing is the most violent thing to do.” Mit dieser Philosophie schlagen wir auch dem heute so zeitgemäßen Phänomen des FOMO (fear of missing out oder die Angst, etwas zu verpassen) eine Schnippe. Interessant fand ich dazu Kindlers Aussage, dass, während viele FOMO für einen Ausdruck der Angst vor dem Tod hielten, seiner Meinung nach hinter FOMO vielmehr die Angst vor dem Leben selbst stecke. Angst davor, sich für ein Leben zu entscheiden, eine Möglichkeit, die vielleicht im Nachhinein nicht die beste gewesen ist. Doch in Wahrheit ist es manchmal das Beste, sich einfach mal zu entscheiden und dann zufrieden damit zu sein, nicht weiter alles zu optimieren. Das gute Leben sorge sich nicht darum, besonders viele Erlebnisse anzusammeln. Das gute Leben erteile dem ständigen Wettbewerb eine radikale Absage nach dem Motto I would prefer not to! Vielleicht sollten wir alle öfter mal „Nö, lieber nicht“ sagen – egal ob zu unseren Angehörigen, Chef*innen oder dem Wäscheberg im Wohnzimmer.
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