Ordnung kann man nicht halten
Das Kapitel beginnt damit, dass Lars an die Worte seiner Frau Johanna denkt, die ihm hin und wieder sagt, dass er echt mal lernen solle, Ordnung zu halten. Aber an diesen Worten hat er sich schon immer gestoßen. Ordnung halten, was soll das überhaupt sein? Der Ausdruck passt ihm nicht, denn das geht doch gar nicht?! Man könne einen Stapel Bücher halten, einen Hund mit Sicherheit, vielleicht noch ein Fahrzeug – und manchmal am besten den Mund – aber Ordnung, die rinne einem durch die Finger, die könne man garantiert nicht festhalten.
Lieber nicht hinschauen
Was er, Lars, hingegen aber sehr wohl könne, sei das Nicht-hinschauen. Darin hat er es nämlich zur Meisterschaft gebracht. Das Nicht-hinschauen ist eine echte Kunstfertigkeit, findet er. Es ermöglicht ihm nämlich, einen entspannten Tag zu verbringen, ohne die ganze Plackerei von wegen putzen, aufräumen und so. Es sei nämlich so: Wenn man einmal richtig hinschauen würde, dann würde man feststellen, dass nicht nur die Spülmaschine ausgeräumt werden müsste, nein auch das Bücherregal müsste mal wieder entstaubt werden, die Kaffeemaschine wartet schon länger auf die Reparatur, im Schlafzimmer sollte noch die Gardinenstange angebracht werden und der Schlitten muss zurück in den Keller. Dann würde man vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Und dann wäre es vorbei mit dem entspannten Tag. Die Briefe, die ungeöffnet auf dem Tisch liegen, guckt man deshalb lieber gar nicht erst an. Genauso wenig wie die halbleeren Marmeladengläser im Kühlschrank mit zweifelhaftem Inhalt. Denn sieht man da hin, muss man unweigerlich auch die von Pfandflaschen überquellende Tasche sehen. Und dann streift der Blick ganz automatisch die Pappkartons der letzten Bestellung, die samt Verpackungsmaterial in eine Ecke des Wohnzimmers ausgelagert wurden. Nein, da sei es definitiv besser, gar nicht erst hinzuschauen.
Nomos
Das griechische Wort Nomos bezeichnet „ein Fleckchen der Bedeutung, herausgemeißelt aus der unendlichen Masse der Bedeutungslosigkeit, eine kleine Lichtung der Klarheit in einem formlosen, dunklen, ständig dräuenden Dickicht.“ Das Nomos hilft Lars dabei, Ordnung in sein Zuhause zu bringen. Er setzt sich auf den Fußboden neben den Couchtisch, taucht einen Lappen in einen Eimer Wasser, wischt, wo eben noch ein Kaffeefleck war, ein Quadrat von vielleicht 1×1 Meter und poliert es anschließend mit einem T-Shirt, das er auf der Couchlehne vorfand, trocken. Auf diese Weise schafft sich Lars sein Nomos, sein eigenes Fleckchen Bedeutung, seine „Lichtung der Klarheit“. Und weil er es fast nicht glauben kann, sagt er es sich laut vor: Wo ich bin, herrscht Ordnung, ich bin in Ordnung, in Ordnung, in Ordnung, … Und er kommt sich leicht vor, denn „Wenn man selbst in Ordnung ist, kann einem das Chaos nichts anhaben.“ Allerdings nützt es nichts, wenn Ordnung nur in den eigenen Gedanken herrscht. Tja, denkt Lars, die Ordnung im Kopf muss sich schon noch in materielle Wirklichkeit verwandeln, am Ende muss man immer noch selber Hand anlegen.
Die Pistole auf der Brust
Ein extremes Wetterereignis, Verschleppung durch eine CIA-Spezialeinheit, Vulkanausbruch, Wildschweine in der Vorstadt: Das Problem ist, dass einfach nie die Welt untergeht. Denn angesichts eines drohenden – und zwar sehr akut, sehr real drohenden – Weltuntergangs würde man natürlich zu Potte kommen und endlich aufräumen zum Beispiel. (Also, wenn die Welt wirklich untergeht, wäre es auch egal, wenn im Wohnzimmer noch die ungefaltete Wäsche liegt. Es geht selbstverständlich um den Druck, um die Dringlichkeit, die so ein Weltuntergang auslöst!) Das Problem ist nämlich immer, dass in Wirklichkeit nichts passiert. Das Nichts ist die größte Herausforderung. Denn man könnte zwar, aber man muss ja nicht! „Wenn jemand so gütig gewesen wäre, mir eine Pistole zwischen die Schulterblätter zu pressen und wenigstens ein kleines bisschen nervös zu zucken“, erklärt Lars, dann könnte er alles schaffen. „Wenn es hart auf hart kommt, kann man alles schaffen, aber meistens kommt es weich auf weich, und da bleibt man besser liegen.“ Und die anderen? Auf die könne man sich auch nicht verlassen. „Alle behaupten immer, sie wollen einem helfen, aber einfach mal zur Handfeuerwaffe greifen, das will dann wieder keiner.“
Lovely House or lousy house?
Es ist nämlich so: Während ordentliche Wohnungen immer auf ihre eigene Art ordentlich sind, mit unterschiedlichem Einrichtungsstil, die diversen Charaktere und Lebensweisen der Personen widerspiegelnd, die in ihnen leben, sind unordentliche Wohnungen immer gleich. Lousy Houses gleichen einander, denn Chaos sieht überall auf der Welt identisch aus. „Und egal welches Farbkonzept die ordentliche Wohnung mal hatte, im unordentlichen Zustand [ist] sie immer grimmgraubräunlich mit einer dicken Schicht Weltuntergang.“ Warte, war Weltuntergang nicht genau das, was man jetzt braucht?
Die Illusion der Ordnung
Es gibt Makrozustände und es gibt Mikrozustände. Beispiel Zauberwürfel: Der hat zwei Makrozustände, gelöst und nicht gelöst. Der Makrozustand hat dabei nur einen einzigen Mikrozustand, nämlich den, in dem alle Felder auf einer Seite jeweils derselben Farbe angehören. Sobald auch nur ein einziges grünes Quadrat auf der gelben Seite ist, befindet sich der Zauberwürfel im Makrozustand nicht gelöst. Nicht gelöst umfasst also alle Kombinationen, bis auf die eine, die gelöst ist, also ca. 43 Trillionen Mikrozustände. Und genau so ist es auch mit der Ordnung. Wenn die Wohnung zwei Makrozustände hat, nämlich Ordnung und Unordnung, und Ordnung bedeutet, dass alles an seinem Platz ist, dann bedeutet das, dass der Makrozustand Ordnung genau einen Mikrozustand hat, where every item is in it’s home. Das führt dann dazu, dass, sobald ein Gegenstand nicht an seinem Platz ist (die Suppenkelle beispielweise nicht an dem für sie vorgesehenen Haken hängt), sich das ganze Haus im Makrozustand Unordnung befindet. Eine Socke falsch einsortiert, zack: Makrozustand Unordnung. Tasse nicht weggeräumt: Unordnung. Kabel liegengelassen: Chaos. Bedenkt man dann noch, dass ein Zauberwürfel aus nur 26 Steinen besteht, ein durchschnittlicher Haushalt in Deutschland aber 10.000 Gegenstände beherbergt, dann gute Nacht! „Wenn man jetzt mal überlegt, wie viele Objekte sich in einem einzigen Zimmer auf wie viele Arten verteilen können, da kommt man ja schnell in die Quindezilliarden, was eine echte Zahl ist, die man nur fast nie braucht, außer man berechnet die absolute Ausgeschlossenheit der Ordnung.“ Ordnung ist also theoretisch möglich, praktisch aber vollkommen ausgeschlossen.
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