Wirklichkeit und Hirngespinste
Erstaunlicherweise ist es so, dass unser Gehirn keinen großen Unterschied zwischen Realität und Fiktion macht – so die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft. Wir haben es alle schon einmal bei uns selbst erlebt: Dass wir uns in süßen Tagträumen verlieren und so glücklich fühlen, als hätten wir gerade wirklich den Himmel auf Erden erlebt. Oder dass wir angesichts einer dramatischen Szene in einem Film mitweinen oder uns mitgruseln, obwohl wir doch behütet und sorglos auf unserer gemütlichen Couch sitzen. Irgendetwas löst ein trauriges Gefühl in uns aus, dann weinen wir. Das ist die Kausalitätskette, die jeder erstmal für ziemlich logisch hält.
Gefühle sind allerdings eine recht faszinierende Sache. Tatsächlich ist es sogar so, dass die Reihenfolge – erst kommt ein Gefühl, daraufhin mein Verhalten – nicht in Stein gemeißelt ist. Kennst du den Lach-Trick? Man stellt sich vor den Spiegel und lacht (oder man lacht einfach so) und nach ein paar Augenblicken schon fühlt man sich glücklicher oder hat zumindest wieder gute Laune. Erst das Verhalten, dann das Gefühl! Das funktioniert, weil das Gehirn eben nicht weiß, warum man gerade lacht. Lachen schüttet jede Menge Oxytocin aus, weshalb man sich automatisch besser fühlt, wenn man lacht – egal ob es nun einen Grund dafür gibt oder nicht. Gefühle können also auch durch ein bestimmtes (fiktives) Verhalten ausgelöst werden.
Das Gleiche Prinzip wirkt auch beim Manifestieren: Wir malen uns eine bestimmte Sache in den schönsten Rosatönen aus, schwelgen so richtig in Zukunftsvorstellungen und verhalten uns fortan so, als hätten wir unser Ziel schon erreicht. Wir haben die großartige Fähigkeit, auf diese Weise unseren Körper zu überlisten (im positiven Sinne natürlich). Er denkt nämlich, unsere Hirngespinste wären bereits Wirklichkeit, und beschenkt uns dafür mit den erhabensten Gefühlen. Das Gefühl, es geschafft zu haben, hilft uns ungemein dabei, es dann wirklich zu schaffen.
Wenn wir Manifestieren, erfinden wir quasi eine bestimmte Version unserer Zukunft, schreiben die Fortsetzung unserer eigenen Geschichte. Geschichten – also das, was wir uns über uns selbst und die Welt erzählen – sind unglaublich kraftvoll. Geschichten „schaffen einen Spielplatz für den Geist“, sagt Thomas Pyczak, Autor des Buches Tell me!, in dem es um die Power von Storytelling geht. Er sagt weiter: „Ob wir Dinge real erfahren […] oder ob wir nur davon lesen oder hören, löst die gleiche Reaktion im Gehirn aus.“ Hinzufügen lässt sich: Oder ob wir sie uns nur erzählen – die Reaktion bleibt gleich.
Eine Anprobe etwas anderer Art
Wir gehen ins Geschäft, allein oder mit einer Freundin. Es ist unser Lieblingsgeschäft oder irgendein anderes. In der Umkleidekabine hängen wir die ausgewählten Kleidungsstücke an den Haken. Wir ziehen unseren Pullover über den Kopf, die Hose aus, dann geht es los mit dem Anprobieren: Wir schlüpfen in neue Kleider, ziehen Blusen an, stülpen uns Mützen über den Kopf. Wir knöpfen Hemden zu und wieder auf, fühlen uns verkleidet, manchmal ist es auch der perfect fit. Wir probieren verschiedene Stile, Situationen, Gefühle an. Kleidung ist letztlich ein Ausdruck der Persönlichkeit. Am Ende verlassen wir den Laden (das wäre zumindest wünschenswert) mit einem neuen Outfit, das unserer Meinung nach gerade genau zu uns passt.
Auch in Geschichten geht es um Identität. „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Ein großartiges Zitat von Max Frisch. Und es ist wirklich so: Wir reden uns selbst Dinge ein, die wir dann für die Wahrheit halten. Welche Geschichte erzählst du von dir? Bist du die ewig Schüchterne, die einfach nicht auf andere Menschen zugehen kann? Identifizierst du dich als Raucherin? Mit diesem Narrativ wirst du für immer zurückhaltend bleiben und wahrscheinlich nie mit dem Rauchen aufhören. Mit jedem „Ich bin“-Satz gravierst du deine Identität tiefer in das Papier, das deine Existenz ist. In dem Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude der berühmten tschechischen Gegenwartsautorin Radka Denemarková gibt es eine Passage, die ich ganz wunderbar finde:
„Mit welchen Wörtern stimmen wir eigentlich überein? Welche Wörter kleben wir uns selbst an und welche schmiegen sich im Laufe des Lebens ganz von alleine an uns, obwohl wir sie hassen, sie wegscheuchen, mit ihnen Blindekuh spielen und sie von unserer Haut pulen?”
Ja, das sind sehr gute Fragen. Du entscheidest, welche Wörter du wegscheuchst und welche du dir anklebst!
Frage dich: Erzähle ich mir eine Geschichte, die zu mir passt? Zu der, die ich jetzt bin?
Frage dich: Was ist wichtig für mein Leben? Wirklich wichtig?
Frage dich erneut: Welche Geschichte über mich und mein Leben will ich schreiben?
Wenn du am Ende sagen kannst: „Ich kann mich in meiner Geschichte oder meinen Geschichten als mich selbst erkennen“ (Thomas Pyczak), dann lebst du im Einklang mit deinen inneren Werten. Sich in seiner eigenen (Lebens-)Geschichte als sich selbst erkennen – darum geht es, das ist das Ziel. Doch bis dahin ist es mitunter ein weiter Weg. Wir experimentieren, verwandeln uns, erfinden uns ständig neu. „Wir probieren Geschichten an, wie man Kleider anprobiert.“, fand Max Frisch. Wir schreiben die eigene Geschichte immer wieder neu, bis wir das Gefühl haben, nun sei sie richtig formuliert, genau auf den Punkt. Aber ausgeschrieben ist sie dann immer noch nicht.
Geschichtenentwicklung
Geschichten, obwohl sie im Bereich der Fiktion angesiedelt werden, haben also auch die Macht, unsere Wirklichkeit zu konstruieren. Geschichten, die wir uns und anderen von uns erzählen, sind Ausdrucksformen unserer Persönlichkeit, sie formen unsere Identität. Vorsicht ist daher unbedingt geboten bei düsteren, negativen, selbstzerstörerischen Erzählungen. Inhalte wie „Ich kann einfach nicht Ordnung halten“ wirken sich aus auf unsere Wahrnehmung, sie werden zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Nutze stattdessen die Kraft der Imagination, um eine Geschichte für dich zu entwickeln, die dich näher an deine Ziele bringt. Schreibe „Ich kann Ordnung halten“ auf dein Lebenspergament. Nein, besser noch, schreibe: „Ich kann Ordnung halten!“ (AUSRUFEZEICHEN). Dann lies dir die Geschichte jeden Abend vor dem Einschlafen vor. Und direkt nach dem Aufwachen. Und so oft wie möglich zwischendurch. Lebe in deiner Geschichte, sei Erzählerin und Hauptfigur deines eigenen Romans, sprich deines Lebens.
Du wirst jetzt vielleicht einwenden, dass du Angst vor Heuchelei hast. Dass du nicht lügst, dies aber eine glatte Lüge wäre, die du da als deine Lebensgeschichte verkaufen würdest. Lass dir sagen: Eine Lüge und eine Prophezeiung sind zwei unterschiedliche Sphären. Du flunkerst nicht, du nimmst etwas vorweg, was sich bald schon als deine Wirklichkeit entpuppen wird. Thomas Pyczak schreibt: „Es geht nicht so sehr um Wahrheit im Sinne des Forensikers. Wir schaffen eine Erzählung, die sich im besten Fall positiv auf unsere Zukunft auswirkt.“
Bedeutungsvolle Objekte
In dem Storytelling-Buch Tell me! hat mir eine Episode besonders gut gefallen. Der Autor Thomas Pyczak stellt da ein Projekt vor, was vor ein paar Jahren auf Ebay durchgeführt wurde. Das Projekt heißt Significant objects und es handelt sich dabei um den Versuch, Gegenständen durch Geschichten eine Bedeutung zu verleihen, einen Wert, der über den eigentlichen Gegenstand hinausgeht. Die Initiatoren des Projekts sammelten zahlreiche gebrauchte Gegenstände – teilweise bizarr, wirklich alt – und ließen bekannte Autor*innen dazu eine kurze Geschichte schreiben. Die Geschichten kamen aus allen möglichen Genres, aber sie hatten alle gemein, dass einer der Gegenstände darin vorkam. Anschließend wurden die Gegenstände zusammen mit der jeweiligen Geschichte verkauft. Das Beeindruckende: Beim Verkauf erzielten die Gegenstände Summen, die ein Vielfaches des Preises waren, den die Initiatoren ursprünglich dafür ausgegeben hatten. Und die den Wert dieser Dinge, rein objektiv betrachtet, deutlich überstiegen. Wie kann es sein, dass eine abgegriffene Figur, die für vier Dollar gekauft wurde und in einer Geschichte die Rolle eines Voodoo-Objektes spielte, plötzlich 150 Dollar einbringt? Ganz einfach: Durch die Magie von Geschichten. Thomas Pyczak beschreibt die Idee des Experimentes so: „Hauche Gegenständen mit Geschichten eine Seele ein und nutze Gegenstände, um Geschichten greifbar, hinstellbar, dekotauglich zu machen.“ Menschen lieben Geschichten. Und Geschichten können Dingen eine Bedeutung geben.
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