Aufmerksamkeitsgesellschaft
Nicht Gold, nicht Information, nein, mit Aufmerksamkeit wird gehandelt in unserem Zeitalter. Wir sind längst über die Informationsgesellschaft hinaus, denn unsere eigene Aufmerksamkeit ist begehrtes Einkommen (jeder möchte sie haben), echtes Kapital (im Influencer-Marketing wird Aufmerksamkeit in Form von Reichweite zu Geld) und soziale Währung zugleich (jeder lechzt nach Aufmerksamkeit). Aufmerksamkeitsökonomie wird das genannt – Geschäfte machen mit einer knappen Ressource. Und sie wird immer knapper. Immer mehr Werbesprüche, Schlagzeilen, Posts, Bilder, Videos, Reels, Shorts und so weiter wollen von uns beachtet werden. Und kämpfen dabei gegen die Zeit an. Acht Sekunden lang ist laut einer Studie von Microsoft im Durchschnitt unsere Aufmerksamkeitsspanne. Tendenz sinkend. Auch wenn der Vergleich mit dem Goldfisch, der aus der Studie stammt und den ich absichtlich provokant eingesetzt habe, hinkt und häufig kritisch hinterfragt wird, wird eines doch sehr deutlich: Unsere Aufmerksamkeit ist ein rares Gut. Und sie wird so schnell in die Irre geleitet – zum Beispiel, indem man sie mit der eines Goldfisches vergleicht. Vielleicht wollte Microsoft nur diesen Effekt aufzeichnen. Wenn du auf diesen Artikel geklickt hast, ist es gelungen.
Ablenkung – Antagonist zur Aufmerksamkeit
Unsere Aufmerksamkeit ist also begrenzt, die Spanne mitunter sehr kurz. Eine künstliche Verknappung findet zusätzlich dadurch statt, dass große Medien, soziale Netzwerke und Onlinehändler um unsere Aufmerksamkeit buhlen und sich für keine Mittel und Tricks zu schade sind, diese auch zu bekommen. Durch die Flut an Informationen und Lockmitteln müssen wir mit unserer Aufmerksamkeit gekonnt jonglieren, damit sie nicht zur Flipperkugel wird.
Doch die viele Zeit, die wir am Smartphone verbringen, hat auch Auswirkungen auf unseren analogen Alltag. Auch außerhalb des Medienrummels fällt es uns zunehmend schwer, einer Sache unsere volle Aufmerksamkeit zu widmen. Wir können uns immer schlechter konzentrieren. Das heißt, wenn wir nicht von äußeren Reizen wie Marketingmaßnahmen oder anderen Personen unterbrochen werden, dann häufig von unseren eigenen Gedanken. Und gerne drehen sich diese um unerledigte Aufgaben. Der sogenannte Zeigarnik-Effekt besagt, dass unser Gehirn sich besser an Unerledigtes erinnern kann als an Erledigtes. Bis wir sie abgehakt haben, schwirren also anstehende To Dos in unseren Köpfen herum.
Arten unerledigter Aufgaben
Die E-Mail schreiben, den Termin absagen, die Präsentation vorbereiten. Den Müll rausbringen, den Wocheneinkauf machen, Wäsche waschen: Allesamt zu erledigende sprich unerledigte Aufgaben. Wir haben wahrlich genug, was unsere Aufmerksamkeit erfordert. Ehrgeizig haken wir alles nach und nach ab. Doch auch nach getaner Arbeit fühlen wir uns manchmal nicht besonders erleichtert. Das kann an der Natur der To Do-Liste liegen, dass dort sofort nach Erledigung eines Punktes ein neuer erscheint. Never ending story.
Meiner Meinung nach gibt es neben diesen „klassischen“ To Dos aber auch noch andere, subtilere: Der Garagenschlüssel ist hinter die Kommode gefallen, die Schublade im Flur geht nicht mehr ganz zu (irgendetwas ist eingeklemmt), auf dem Sideboard stapelt sich die ungeöffnete Post, auf dem Schreibtisch Berge von Papier. Im Blumentopf-Sammelsurium auf dem Balkon hat sich ein Feuchtbiotop gebildet. Die Abstellkammer startet ein Eigenleben (die Tür lässt sich nicht mehr schließen und offenbart jedes Mal beim Vorbeigehen eine To Do-Liste räumlicher Art). Das alles sind unerledigte Aufgaben auf physischer Ebene. Frei zitiert nach einem bekannten Song: Deine (unaufgeräumten) Gegenstände sind nur ein stummer Schrei nach Liebe. Respektive Aufmerksamkeit. Unordnung im eigenen Zuhause ist wie die Verkörperung des Zeigarnik-Effektes: Eine stete Erinnerung daran, dass du etwas zu erledigen hast.
Aufräumen zum Abhaken
Durch Aufräumen eliminierst du die nervigen Erinnermichs zumindest schonmal auf der räumlichen Ebene. Du ziehst die Kommode ein Stück vor, hebst den Garagenschlüssel auf und findest dabei auch gleich noch deine Sonnenbrille, die du seit drei Wochen vermisst. Du holst den Inhalt der Schublade heraus, erklärst ein Drittel für mülltauglich und verstaust die restlichen zwei Drittel ordentlich, sodass die Schublade wieder ganz schließt. Du nimmst dir einen Tag vor, an dem du sämtliche Post durchgehst, entweder direkt entsorgst oder erledigst und abheftest. Das Gleiche machst du mit den Papieren auf dem Schreibtisch: Bergabbau, völlig unbedenklich. Den Inhalt der Blumentöpfe kippst du – soweit unbrauchbar geworden – auf den Kompost und spülst alle Töpfe aus. Ordentlich in einer Ecke gestapelt können sie bis zum Frühling in Ruhe auf die nächste Pflanzaktion warten. Als letztes Mammutprojekt nimmst du dir deine Abstellkammer vor. Nach ca. sechs Stunden Ausmistens und Umsortierens bist du erledigt. Aber die Aufgabe eben auch! Und die Tür lässt sich auch wieder schließen.
Aufräumen ist eine Art, die eigene Aufmerksamkeit, die sich (unterbewusst) auf viele verschiedene Bereiche verteilt hat, wieder einzufangen, zu bündeln und – im wahrsten Sinne des Wortes – zu konzentrieren. Aufräumen ist eine Möglichkeit, die vielen Stimmen im Kopf zum verstummen zu bringen und zwar nicht durch unlautere Methoden, sondern dadurch, dass du ihnen Liebe in Form deiner Aufmerksamkeit entgegenbringst.
Aufräumen als Achtsamkeitsübung
Wir haben gesehen, wie wir durch Aufräumen zumindest einen Teil der Stressauslöser in unserem Alltag eliminieren können. In einem aufgeräumten Zuhause herrscht Ruhe und Klarheit, die zur Zeitersparnis und zum Zugewinn an Entspannung und Zufriedenheit führt. Auf diese Weise hat man mehr Energie (oder Aufmerksamkeit) frei für die Aufgaben, die sonst noch so anstehen. Allerdings wirkt diese Form des Aufräumens recht reaktiv. Irgendwo entsteht ein Berg an Unordnung, also wird er beseitigt. Besser wäre es doch, diesen Berg gar nicht erst entstehen zu lassen. Das Allerallerbeste ist deshalb eine Art des Aufräumens, das reflexiv ist, ganzheitlich und vor allem auch präventiv!
Aufräumen nach der KonMari® Methode hat zwei Besonderheiten:
- Fokus auf Freude: Das Besondere an der Aufräummethode von Marie Kondo (KonMari® Methode) ist, dass sie von deinem eigenen Glücksgefühl als Kompass ausgeht. Du lernst, wieder auf dein Bauchgefühl zu hören, findest heraus, wie es sich anfühlt, wenn dich etwas glücklich machst. Durch die tausendfache Wiederholung der Frage „Does it spark joy?“ weißt du mehr und mehr, was du willst. Und auch, was du nicht willst! Du räumst der Freude in deinem Leben den höchsten Stellenwert ein.
- Entscheidungsfähigkeit: In einem zweiten Schritt lernst du, Entscheidungen zu treffen, die auf diesem Glücksgefühl basieren. Du entwickelst die Fähigkeit, dich immer und überall für Freude zu entscheiden. Da du deine wahren Prioritäten und Vorlieben kennst, fällt es dir leicht, schnell abzuwägen, ob etwas deinem Leben zuträglich ist oder nicht.
Dieser Doppelschritt – den Sinn für das schärfen, was dir Freude bereitet, und dann konsequent danach zu handeln – befähigt dich dazu, Alleinherrscherin über deine Aufmerksamkeit zu sein. Du hast durch das Aufräumen deines Besitzes nicht nur sämtliche Unruheherde beseitigt, die deine Aufmerksamkeit stören könnten. Du hast dich darüber hinaus auch im Innen ausgerichtet auf dein eigenes Glück. Warum solltest du noch stundenlang Katzenvideos gucken, wenn du in der Zeit auch das Buch lesen könntest, was dich interessiert und wirklich weiterbringt? Warum solltest du die Reels Unbekannter verfolgen, anstatt zu diesem Vortrag zu gehen von der Autorin, die dich inspiriert? Wenn du deinen Weg kennst, kannst du dich an jeder Weggabelung proaktiv dafür entscheiden, wo du langgehst. Mit einem aufgeräumten Geist wird es dir zunehmend leichter fallen, die Marktschreier, die am Wegesrand stehen, zu ignorieren.
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