Schnelllebigkeit
Wir leben in einer Zeit, in der durch Globalisierung, technischen Fortschritt und Massenproduktion alles überall und zu jeder Zeit verfügbar ist. Dieses Überangebot an Möglichkeiten führt zu Überfluss und einer entsprechenden Schnelllebigkeit: Warum sollte ich mich mit dieser einen Sache zufriedengeben, wenn ich doch viel mehr haben kann? Warum sollte ich nicht meine Garderobe regelmäßig erneuern, um gemäß dem Zahn der Zeit gekleidet zu sein? Trends kommen und gehen schneller, als man gucken kann – besonders in der Modebranche. Billige Produktion macht es möglich, (fast) jedem Trend zu folgen; im Zweifel ist die Qualität sowieso nicht so wichtig, wenn man sich kurze Zeit später wieder ein neues Teil kauft. Der Begriff Fast Fashion ist mittlerweile ein etablierter Ausdruck für billig produzierte Textilware, die in schneller Abfolge als Kollektionen auf den Markt kommt. Als Gegenpart hierzu entstehen Bewegungen wie Fair Fashion oder Slow Fashion, bei denen faire Arbeitsbedingungen, ökologisch verantwortungsbewusstes Verhalten und qualitativ hochwertige Materialien im Vordergrund stehen.
Der ständige Wechsel der Kollektionen und das Bedürfnis, mithalten zu wollen, führen nicht nur zu ökologisch fragwürdigem Verhalten, sondern auf persönlicher Ebene zu Druck und Ermüdung. Angesichts der unendlich großen Auswahl an Designs und des permanenten Hinterherseins (wenn du dir im Sommer noch keine Gedanken über Winterkleidung machst, verpasst du die „neusten, coolsten, besten“ Trends), ist es mehr als verständlich, den Wunsch zu verspüren, das Thema mit der Kleidung zu entkomplizieren.
Simplizität
Das Prinzip der Capsule Wardrobe verbindet Simplizität mit Stilbewusstsein. Es spricht diejenigen an, die morgens sofort wissen wollen, was sie anziehen, und gleichzeitig Wert darauf legen, modisch gekleidet zu sein. Es geht darum, wenige und dennoch gut kombinierbare Kleidungsstücke zu besitzen, in denen man sich wohlfühlt. Ziel ist es also, die Anzahl der Kleidungsstücke soweit zu reduzieren, dass man für jeden Anlass einfach und schnell Outfits zusammenstellen kann, ohne dass der Kleiderschrank aus allen Nähten platzt. Das erfordert auf jeden Fall Kreativität!
Für die Erreichung dieses Ziels gibt es verschiedene Herangehensweisen: So kann man sich entweder prozentual dem Inhalt der Garderobe nähern (30 % Arbeit, 20 % Sport, 10 % Zuhause, 5 % elegant usw.) oder numerisch (20-40, häufig 37, Kleidungsstücke, Unterwäsche und Accessoires nicht mitgezählt).
Die Capsule Wardrobe ist dabei ein geschlossenes System, das den kompletten Kleiderschrank ersetzen oder zusätzlich zu ihm existieren kann. Bildet die Capsule Wardrobe den einzig vorhandenen Kleiderfundus, führt dieses System tatsächlich zu Reduktion, Einfachheit und eventuell auch Nachhaltigkeit. Die einzelnen Kleidungsstücke werden gepflegt, Neuanschaffungen werden erst getätigt, wenn Teile unbrauchbar geworden sind.
Andere erschaffen sich aus ihrem großen Kleidungsrepertoire mehrere oder immer wieder neue Kapsel-Garderoben. Den Rest ihrer Kleidung verstauen sie derweil in einem separaten Bereich des Schrankes oder einer Kiste als Lagerbestand. Aktive Garderobe und passives Lager bestehen so nebeneinander. Echte Einfachheit sieht anders aus.
Stil
Durch das bewusste Auswählen der Kleidungsstücke, die im Schrank bleiben sollen, werden die Komplexität der Kombinationsmöglichkeiten merklich reduziert und dadurch das alltägliche Finden des passenden Outfits erleichtert. Bereits beim Zusammenstellen der Capsule Wardrobe wird das Element der Kombinierbarkeit mitgedacht, indem Outfits geplant und eventuell fotografiert werden. Dieses Vorausdenken minimiert den täglichen Aufwand enorm. Die Erstellung einer Capsule Wardrobe ist darüber hinaus eine gute Möglichkeit, über den eigenen Stil nachzudenken. Welche Art von Kleidungsstücken, welche Materialien, welche Schnitte, welche Farben gefallen mir eigentlich? Worin fühle ich mich wohl? Wie bei der berühmten Frage aus der KonMari® Methode (Does it spark joy?) steht hierbei die persönliche Freude im Mittelpunkt. So geht es um den Menschen als Subjekt und weniger um die Objekte an sich. Die beschränkte Auswahl an Kleidungsstücken lässt zudem Raum, um auf die Qualität der Kleidung zu achten.
Second Hand
Beim Zusammenstellen der Capsule Wardrobe fällt einem wahrscheinlich auf, dass noch Kleidungsstücke zur Komplettierung fehlen. Diese kommen dann auf die Einkaufsliste. Wer sich im Voraus so viele Gedanken über die perfekte Garderobe gemacht hat, wird nun wohl kaum bei günstigen Modelabels und -ketten kaufen. Statt Schnäppchenjagd geht es jetzt wirklich darum, gut passende und langlebige Kleidungsstücke zu finden, die Freude bereiten. Aber auch hochpreisige Ware ist nicht garantiert von guter Qualität. Hier gilt es, genauer hinzuschauen!
Eine Idee, die Capsule Wardrobe nachhaltiger zu gestalten, wäre, bewusst in Second Hand-Läden, ob offline oder online, nach den fehlenden Teilen Ausschau zu halten. Eine Capsule Wardrobe ist sowieso kein Projekt, das innerhalb eines Tages umgesetzt werden kann. Zur Methode gehört, dass man sich Zeit nimmt, die erstelle Garderobe auszutesten. Das Suchen von passender Second-Hand-Kleidung ist natürlich aufwendiger und zeitintensiver. Vielleicht dauert es so mehrere Monate, bis man genau die Teile gefunden hat, die man haben wollte. Ein Pluspunkt dieser Variante ist aber, dass man noch genauer überlegt, was man braucht, und so gegen Impulskäufe gewappnet ist. Außerdem entwickelt sich auf diese Art wahrhaftig ein individueller Stil.
Surrealismus
Kritik am Prinzip der Capsule Wardrobe wird unter anderem von Anika Neugart in ihrem Buch „Simply Green. Von Achtsamkeit bis Zero Waste: Nachhaltige Lebensstile im Faktencheck“ geäußert. Sie moniert, dass die Capsule Wardrobe mittlerweile zum Marketinginstrument der Modeindustrie geworden ist, was man daran sehen könne, dass Marken von Zara bis Dolce & Gabbana explizite Capsule-Kollektionen auf den Markt bringen. Und Influencer*innen in den sozialen Medien bewerben Must-haves für die Capsule Wardrobe. Dies führt zu Fehlkäufen und unreflektiertem Konsum und in der Folge nur zu einer unsinnigen Ergänzung der eh schon unübersichtlichen Kleidersammlung zuhause. Das Gegenteil von Einfachheit und Nachhaltigkeit! Zudem würden die verführerischen Bilder auf Instagram oder Pinterest eine Welt zeigen, die so nicht real ist: „Nach Farbpalette sortierte Kleidung in offenen Kleiderschranksystemen vor sauberem, weißem Hintergrund – die Kleidungsstücke wirken wie kuratierte Kunstwerke.“, schreibt Neugart. In der Praxis stellen die meisten dann fest, dass die Garderobe aufgrund der praktischen Basics eher 50 shades of grey ähnelt. Außerdem müsste durch die beschränkte Anzahl an Teilen öfter gewaschen werden. Insofern gilt: Die unreflektierte Capsule Wardrobe ist nun auch nicht das Gelbe vom Ei. Ich rate, den eigenen Kleiderschrank vorher mal zu checken. Vielleicht braucht man gar keinen fancy englischen Begriff, um festzustellen, dass man nicht in einem surrealistischen Gemälde leben will.
Responses
Toller Beitrag, danke Freya!
Das freut mich, Ilka! 🙂